Review: Le Pustra’s Kabarett der Namenlosen

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Berlin verändert sich, seitdem es an Popularität gewonnen hat. Das bemerkt die kesse Berlinerin besonders, wenn sie aufgehübscht zu einer Festivität eilt und sich auf dem Weg dahin überlegt ob sie vielleicht Eintritt nehmen sollte. Eintritt in das Panoptikum, was man selbst ist. Die Berlinerin zieht Blicke auf sich, läßt Köpfe drehen und Münder offen stehen und das alles nur, wegen etwas Lippenstift und einem Hütchen.Na gut, zugegeben liegt es vielleicht auch noch etwas mehr an ihrer Erscheinung. Mit den Absätzen fast 190 cm groß, das Outfit vielleicht eher an das Berlin um 1930 erinnert. Und doch sitzt sie in der Tram und erinnert sich wehmütig an die Zeit zurück, als die Stadt etwas anders war. Als es noch nicht gereicht hat sich fein  heraus zu putzen um zur Touristenattraktion zu werden.

Wie schön ist es dann, wenn man den Hof am Ballhaus in der Chausseestrasse erreicht und dort noch andere Gleichgesinnte sieht. Die sich auch herausgeputzt haben, in Schale geworfen, die Wimpern getuscht und die Haare ondulierten. Viele im Stil der 1920er, so mancher Herr im Frack. Wie wohl das meinen Augen tut, nach dem Einerlei der vielen modischen Einfallslosigkeiten. Mein Herz jubelt bei diesem Anblick und noch mehr, als sich die Türen zum Ballhaus öffnen.

Das Ballhaus ist eine einzigartige Location im Herzen der Stadt und der Punkt an dem meine Zeitreise beginnt. Schwarze Telefone mit beleuchteten Nummern warten an kleinen Tischchen auf den nächsten, der einen kleinen Flirt wagt. Die Luft ist samtig und weich, sie ist geschwängert von Patchouli und Opium. Ein geheimnisvoller Mann mit Maske geht an mir und meiner Begleitung vorbei und fasst ihr unbemerkt ans Bein, eine freche Blonde im Kimono geht an uns vorbei, dann eine Korpulente in Unterwäsche und rotem Hütchen. An der Bar sitzt die Erotik pur: Eine Garçonne. Trinkt ein Glas Wein und wie sie das trinkt…

 

 

Durch die Menge bewegt sich galant eine große Blonde. Sie ist von außergewöhnlicher Erscheinung. Das goldene Haar zum silbernen Kleid unterstreicht die sportlich, schlanke Figur. Es ist Else Edelstahl – die Veranstalterin – die ihre Gäste begrüßt.

Nach dem einen oder anderen Drink nehmen wir unsere Plätze ein. Ganz vorne. Ganz nah an der Bühne. Das Licht wird gedimmt und das Spiel beginnt und mir laufen die ersten Schauer über die Haut. Le Pustra – der Conférencier und Produzent des Kabarett betritt die Bühne. Mein Herz geht auf bei dieser Perfektion, die ich hier erleben darf. Die Musik, die Gesten, die Kostüme, alles so wunderbar abgestimmt, so stilvoll, so vollendet. Die Darsteller brilliant. Da ist Julietta la Doll als Telefonmädchen, Lada Redstar als Prostituierte, Bridge Markland als Anita Berber um nur einige zu nennen.

Ganz vorne bin ich auch mitten dabei. In der Pause fordert mich Mama Ulita – die Garçonne von der Bar zum Tanz auf. Und was soll ich sagen: ich bin ganz verliebt.

Auch weiterhin ist man in der ersten Reihe sehr eingebunden in das Spiel. Man bekommt viel mit, wir mit Puder bestäubt bei Reversos erregtem Make-up-Act, fängt die völlig von der Rolle Anita Berber aus, wird angeraucht vom kleinen Klavier spielenden Matrosen und beim stürmischen Schlussapplaus von Reverso geküsst.

Beschwingt gehe ich nach Hause und war dort bestimmt nicht zum letzten Mal. Denn nun, so fällt es mir wieder ein, als ich mit meinen Absätzen über Berliner Pflaster schwebe: das ist es, was diese Stadt für mich aus macht. Es sind diese wunderbaren Künstler und Freigeister die diese Stadt, dieses Leben so lebens- und begehrenswert machen. Deshalb bin ich hier, deshalb lebe ich in dieser Metropole.

Upcoming Event: Le Pustra’s Kabarett der Namenlosen

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Es ist schon wieder wahnsinnig lange her, dass ich etwas von mir hören lassen habe. Der Grund dafür ist eine nackte Tatsache.Ich bin ganz und gar, mit Haut und Haar dem Burlesque verfallen. Nicht nur versuche ich mich selbst als Performer (mehr schlecht als recht) auch tauche ich als Zuschauer immer wieder gern ab in die Welt voll Glitzer und Glamour. Zudem weiss der geneigte Leser meines Blogs, dass ich ein riesiges Faible für die 20er Jahre meiner Stadt und allgemein habe.

So war ich doch froh zu hören, dass die von mir sehr verehrte Else Edelstahl – die Grande Dame der Boheme Sauvage – ein spektakulär verruchtes Kabarett zusammen gestellt hat Le Pustra’s Kabarett der Namenlosen. Leider verpasste ich die ersten Shows (Arbeit, Arbeit, Arbeit) und so bin ich froh, dass das Kabarett in die zweite Runde geht.

Le Pustra’s Kabarett der Namenlosen Trailer from Le Pustra Official on Vimeo.

Hier geht es zum Trailer.

Am Freitag, 16. September lädt das Kabarett ins Ballhaus an der Chausseestrasse um anschliessend stilvoll, erotisch und wild die 20er Jahre zu zelebrieren. Am Samsag, 17. September hat der Zuschauer ebenfalls die Gelegenheit gleich nach der Show die Boheme Sauvage zu besuchen und in die rauschende Welt der Roaring Twenties abzutauchen.

Ich hab mein Ticket schon und freue mich sehr als Voyeur im Publikum zu sitzen, mir die schönsten Frauen und Stars der Burlesque Szene wie Lada Redstar, Julietta La Doll und Mama Ulita anzuschauen. Der perfekte Auftakt für einen goldenen Herbst voll Glamour, Erotik und Skandale!

Verruchte Grüße,

Stella von Fersen

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English Version is about to come…

 

 

Menschen am Sonntag – 1930

Über dieser Stadt ist kein Himmel. Ob überhaupt die Sonne scheint, ist fraglich; man sieht sie jedenfalls nur, wenn sie einen blendet, will man über den Damm gehen. Über das Wetter wird zwar geschimpft, aber es ist kein Wetter in Berlin. Der Berliner hat keine Zeit. Der Berliner ist meist aus Posen oder Breslau und hat keine Zeit. Er hat immer etwas vor, er telefoniert und verabredet sich, kommt abgehetzt zu einer Verabredung und etwas zu spät – und hat sehr viel zu tun.
In dieser Stadt wird nicht gearbeitet -, hier wird geschuftet. (Auch das Vergnügen ist hier eine Arbeit, zu der man sich vorher in die Hände spuckt, und von dem man etwas haben will.) Der Berliner ist nicht fleißig, er ist immer aufgezogen. Er hat leider ganz vergessen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind. Er würde auch noch im Himmel – vorausgesetzt, daß der Berliner in den Himmel kommt – um viere . Manchmal sieht man Berlinerinnen auf ihren Balkons sitzen. Die sind an die steinernen Schachteln geklebt, die sie hier Häuser nennen, und da sitzen die Berlinerinnen und haben Pause.
Sie sind gerade zwischen zwei Telefongesprächen oder warten auf eine Verabredung oder haben sich – was selten vorkommt – mit irgend etwas verfrüht – da sitzen sie und warten. Und schießen dann plötzlich, wie der Pfeil von der Sehne – zum Telefon – zur nächsten Verabredung.

Kurt Tucholsky (1919), Berliner Tageblatt 332